André Kramer: Leben in zwei Welten

André Kramer:
Leben in zwei Welten

Die psychosozialen Folgen außergewöhnlicher Erfahrungen
am Beispiel von »UFO-Entführungen«

 

KramerIn Deutschland sind wissenschaftliche Arbeiten zur UFO-Thematik, die in einem akademischen Umfeld erstellt wurden, äußerst dünn gesät. Spontan fallen mir nur Ulf Harendarskis »Widerstreit ist zwecklos« und Dirk Ottens »Kosmische Offenbarungen« von 1998 über Anny Baghuns »Blaue Hefte« ein. Da ist es von besonderem Interesse, wenn erneut eine solche Abschlussarbeit erscheint. Es ist André Kramers Bachelor-Thesis im Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kiel, veröffentlicht hat sie ein populärer Verlag, und sie handelt von den Folgen, die Entführungserfahrungen für jene haben, die sie erleben.

Der Band beginnt mit einer allgemein gehaltenen Einführung in das moderne UFO- und Entführungsphänomen (S. 11 bis 49). Bei der Geschichte der Entführungen (auf S. 22 erfolgt eine scharfe Abgrenzung der CE IV zu Kontaktlern, die ich so nicht vertreten würde, wenn man etwa die Fälle Betty Andreasson-Luca oder Whitley Strieber berücksichtigt oder die Tendenz der Entführten ab ca. 1990, auch Botschaften über atomare oder Umweltgefahren zu erhalten und zu verbreiten) geht es von Antonio Villas Boas über Barney und Betty Hill sowie Travis Walton zu Whitley Strieber (Hopkins, der das moderne »Massenphänomen« durch routinemäßige Anwendung der Hypnose bei UFO-Zeugen erst schuf, wird hier nicht angesprochen), dann erfolgt die Beschreibung des Entführungs-Idealtypus.

Dem schließt sich eine Übersicht über die möglichen Erklärungen der Erlebnisse an, die die gesamte Spannbreite von realem Ereignis bis zu psychologischen Faktoren wie Dissoziation, Schlafparalyse, Fantasy-Proneness, False Memory Syndrom etc. umfasst.

Nach einer Methodendiskussion werden acht Beispiele dargestellt, die in Deutschland als Entführung gemeldet wurden. Die Erfassung geschah in Zusammenarbeit mit entsprechenden Selbsthilfegruppen, die Interviews wurden zum größten Teil per E-Mail durchgeführt. Diese Erlebnisberichte sind der Kern des Buches und lesen sich äußerst spannend, weil sie meines Erachtens nach auch unterschiedliche Stadien in der Verknüpfung von Selbsterlebtem mit dem Idealtypus der Entführung darstellen. Es ist überraschend, wie oft hier die Erlebnisse erstens ohne eine entsprechende UFO-Erfahrung und zweitens aus einem Zustande der Schläfrigkeit heraus gemacht wurden. Das könnte durchaus auch Licht auf eine mögliche Ursache wirft.

Im Anschluss stellt sich Kramer die Frage, wie die einzelnen Entführten mit ihren sie verstörenden Erfahrungen umgehen – wie bewältigen sie das Gefühl, fremdartigen Mächten ausgeliefert zu sein? Welche Strategien wendet der einzelne an, welche sind allen gemein? Und wie schaffen es diese Menschen mit ihren von unseren Alltagserfahrungen so abweichenden Erlebnissen, in zwei getrennten Welten zu leben, nämlich der des Konsensalltags und der ihrer Entführungserfahrungen? Wie könnten professionelle Hilfeleister zur Bewältigung ihrer Probleme beitragen? Hier wird immer wieder Bezug genommen auf die wissenschaftliche Viktimologie, die Erforschung von Opfern traumatischer Erfahrungen.

André Kramers Buch ist rein deskriptiv, das heißt, es wird weder über den Realitätsgehalt der Entführungsberichte spekuliert noch eine These – konventionell oder exotisch – vorgestellt oder gar verfochten. Die Berichte werden präsentiert und analysiert unter der Prämisse, dass zumindest die Folgen der Erlebnisse real sind.

Eine Analyse von Entführungserfahrungen, die keinerlei Agenda verficht, weder gläubig noch skeptisch, und die daher das Phänomen quasi in seinem Naturzustand auch zu erfassen versteht, ist bislang noch nicht erschienen, und das macht dieses Buch so wichtig. Die 150 Seiten sind trotz der teilweisen dichten wissenschaftlichen Diktion gut zu lesen und – gerade wenn die Erlebnisse wiedergegeben werden – auch äußerst spannend. Naturgemäß werden dem Lehrfach geschuldete detaillierte Diskussionen von Methoden oder Forschungsgeschichte vielleicht für manchen Leser verzichtbar erscheinen, dafür aber wird es immer sehr aufschlussreich, wenn etwa die Bewältigungsstrategien diskutiert und verglichen werden. Da verwandeln sich nämlich die exotischen Erzählungen, die uns in Büchern wie denen von Hopkins begegnen, plötzlich in sehr menschliche und nachvollziehbare Erfahrungen, die viel realer wirken als die Science-Fiction-Geschichten der Bestseller-Autoren. Sie gehen daher auch stärker unter die Haut.

Besonders fasziniert hat mich schließlich auch das Nachwort, in dem André Kramer beschreibt, welchen Aufruhr sein »exotisches« Thema an der Fachhochschule machte und wie sehr er damit die Dozenten in Verlegenheit brachte. Solange ähnliche Widerstände an Hochschulen existieren, haben es Studenten schwer, das UFO-Themen an die Universität zu bringen und dort zu untersuchen, obwohl gerade das – wie Kramers Buch zeigt – sowohl für den wissenschaftlichen Betrieb wie für die UFO-Forschung von größtem Nutzen wäre.

Wäre dies hier eine Besprechung auf Amazon, würde ich dem Buch fünf Sterne geben. Rundum empfehlenswert!
Ulrich Magin

 

154 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-95652-008-2, 12,50 EUR
Ancient-Mail-Verlag
http://www.ancientmail.de/html/grenzwissen.html
Groß-Gerau, 2013

 

Quelle: JUFOF Nr. 210: 189 f