Der Fall „Linda Cortile“ erregte in den 1990-er Jahren großes Aufsehen, weil er den bis dahin entstandenen Narrativen um UFO-Entführungen ungeheuerliche weitere Dimensionen hinzufügte: Geschehnisse in einer Großstadt mit unabhängigen Zeugen einer Entführung in ein Raumschiff, dazu politische/geheimdienstliche Verwicklungen und schließlich die über Jahre während ihres Aufwachsens wiederholte Zusammenkunft entführter Menschen in Raumschiffen, die sich im Erwachsenenalter dann „im echten Leben“ treffen und wiedererkennen. Publiziert wurde das vom bekannten, 2011 verstorbenen Entführungsforscher Budd Hopkins (Hopkins, 1992a, 1992b, 1997), der schon in vorherigen Veröffentlichungen einige der bekannten Muster von Entführungserfahrungen eingeführt hatte (z.B. „Landstraßenentführungen“, „lebenslange Entführungen“, „genetische Experimente“).

Im Jahr 2024 greift nun eine dreiteilige Netflix-Dokumentation den Fall, um den sich Hopkins‘ drittes Buch dreht, wieder auf. Die Geschichte wird hier als Konfrontation zweier Frauen erzählt: Die erste ist Linda Napolitano, der die nächtliche Entführung aus Manhattan in ein Raumschiff passiert sein soll, die einen Stromausfall verursachte und von mehreren Zeugen in der Nähe der Brooklyn Bridge beobachtet worden sein soll, darunter zwei Geheimdienstagenten, die angeblich den damaligen UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar (2020 im Alter von 100 Jahren verstorben) chauffierten. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich heraus, dass Napolitano und ihre Familie wiederholte Opfer von Entführungen durch Außerirdische sein sollen und durch die Belästigungen der beiden Agenten „Richard“ und „Dan“ immer weitere Probleme bekommen.
Die zweite Frau ist Carol Rainey, zur damaligen Zeit Hopkins‘ Ehefrau und Dokumentarfilmerin, die sich entschließt, Hopkins‘ Arbeit am „Entführungsfall des Jahrhunderts“ zu filmen. Daraus entstehen in den 1990-er Jahren zahlreiche Mitschnitte, von denen die Dokumentation – neben aktuellen Dramatisierungen – zehrt. Im Laufe der Zeit wächst jedoch Raineys Skepsis an Napolitanos Schilderungen. Die Agenten Richard und Dan sind nicht greifbar, sie kommunizieren nur per Brief und Tonbandkassetten mit Hopkins. Die weiteren Zeugen scheinen kein kohärentes Bild desselben Ereignisses wiederzugeben. Immer mehr methodische Probleme der Arbeit ihres Mannes fallen ihr auf, wodurch sie in einen großen Gewissenskonflikt gerät.
In den zur heutigen Zeit aufgenommenen Teilen der Dokumentation kommen noch weitere Personen zu Wort, unter anderem der langjährige Assistent von Budd Hopkins, Peter Robbins, sowie der Entführungserfahrene „John“, von dem zur damaligen Zeit auch Filmmaterial angefertigt wurde. So werden im ersten Teil das Thema UFO-Entführungen und der Umgang von Budd Hopkins mit den Erfahrenden, die damaligen Hypnoseregressionen, Gruppensitzungen und Auftritte in Talkshows vorgestellt, was schließlich im Fall Linda Napolitano und ihrer Entführung am 30. November 1989 aus ihrer Wohnung in der Nähe der Brooklyn Bridge in Manhattan, New York City, kulminiert. Teil 2 ergänzt dann mit der Involvierung der beiden „Agenten“ die weiteren Erlebnisse Lindas und auch die Einbeziehung ihres Sohnes in die ungewöhnlichen Erfahrungen. Im Teil 3 wird darauf fokussiert, was Budd Hopkins und schließlich auch Carol Rainey aus dem Fall machen – die Veröffentlichung eines Buchs (Hopkins, 1997), ein geplanter Kinofilm, eine geplante Dokumentation, aber auch die Zweifel Raineys am Fall und der Arbeit ihres Mannes insgesamt, die auch immer wieder zu Spannungen zwischen den Ehepartnern führen. Ständig wechseln sich dabei Originalaufnahmen Raineys aus den 1990er Jahren mit aktuellen „Dramatisierungen“ ab: Linda Napolitano tritt als eine Art „rauchende Antagonistin“ auf, ihre Aussagen sind deutlich von einem Drehbuch geprägt. Carol Rainey schildert ihre damaligen Erfahrungen, ihre Neugier bezüglich der Phänomene, aber auch ihre Zweifel. Oder möchte sie sich nur an ihrem Ex-Mann rächen? Zuschauende bleiben nach den drei Teilen schließlich mit der Konfrontation zweier Personen, zweier Ansichten und zweier Interpretationen lange vergangener, aber längst in den „Entführungs-Kanon“ eingegangener Ereignisse zurück. Eine klare Aussage im Sinne von „Die Erfahrungen der Familie Napolitano entsprechen der Wahrheit“ oder „Linda Napolitano hat alle Erfahrungen und Materialien geschickt gefälscht“ bietet die Dokumentation am Ende nicht.
Aufgrund der Dramatisierungen und der begrenzten Zeit werden viele Details des hochkomplizierten Falls und der Ereignisse rund um das forschende Ehepaar verkürzt, verändert oder weggelassen, was im Vergleich zu den originalen Publikationen (vgl. insb. Hopkins, 1997) auffällt. So fand ein direkter Konflikt der beiden Frauen, wie er in der Doku quasi aktiv herbeigeführt wird, vorher nie statt; Rainey selbst sagt aus, sie habe Napolitano nie mit ihren Zweifeln direkt konfrontiert, sondern stets mit Hopkins darüber gesprochen. Viele Details rund um die Entführung aus der Manhattaner Wohnung sind dramaturgischen Erfordernissen angepasst – so wurde Napolitano nicht wie in der Doku zu sehen wie mit einem Betäubungspfeil niedergeschossen, sondern spürte ihren Aussagen zufolge im Bett liegend, wie ihr Körper von den Beinen her taub wurde, bevor die Entführung begann. Die sie begleitenden drei Aliens vom Typ „Kleine Graue“ sowie das eigentlich beschriebene ovale, orange-rote Fluggerät (hier durch ein hinter den Wolken verstecktes Independence-Day-artiges Riesenraumschiff oft nur angedeutet) fehlen. Auch wurde Linda Napolitano ihren Aussagen zufolge sogar mehrfach von Richard und Dan entführt. Während Dan geradezu wahnhaft auf die Erlebnisse reagierte, stellte sich im Verlauf heraus, dass Linda und Richard sich durch wiederholte Entführungserfahrungen im Laufe ihres Heranwachsens kannten, in denen sie sich die Namen „Baby Ann“ und „Mickey“ gaben, und erst jetzt im realen Leben zusammentrafen. Hopkins will weitere solcher Paare identifiziert haben und gab dem Ganzen den Namen „Mickey-und-Baby-Ann-Phänomen“. Auch dass Hopkins Pérez de Cuéllar persönlich auf die Entführungsgeschichte, in der dieser eine so wichtige Rolle gespielt haben soll, am Flughafen ansprach und keine zufriedenstellende Antwort erhielt, fehlt in der Dokumentation. Durch diese Details, bei denen vielfach Linda Napolitano die einzige greifbare Zeugin war, steigert sich aber die Unglaublichkeit und Unwahrscheinlichkeit der ganzen Geschichte noch, die sich so als außerweltliche Romanze zwischen zwei sich eingangs unbekannten Entführten inmitten eines Polit-Agententhrillers direkt in New York City entpuppt.
Auch die Arbeit und Erfahrungen von Carol Rainey werden etwas verkürzt dargestellt. Während kritische Stimmen zu Napolitanos Erfahrung bereits kurz nach der Publikation erster Details ihrer Geschichte im MUFON UFO Journal (Hopkins, 1992a, 1992b) laut werden – diese hat nämlich auch noch verblüffende Ähnlichkeit mit den Geschehnissen im 1989 veröffentlichten Roman „Nighteyes“ (dt. „Nachtaugen“) von Garfield Reeves-Stevens (Stefula, Butler und Hansen, 1993) – erscheint Raineys Kritik an der Tätigkeit ihres späteren Ex-Mannes erst weit danach. Immerhin verfasste sie als Koautorin noch 2004 mit Hopkins das Buch „Sight Unseen“ (Hopkins und Rainey, 2004; wurde nie ins Deutsche übersetzt), in dem noch abenteuerlichere Hypothesen wie die Fähigkeit der Aliens zum Unsichtbar-Machen von Menschen, die Aktivitäten inzwischen aufgewachsener Hybridkinder auf der Erde (wie seltsame „Job-Interviews“ mit ahnungslosen Personen) u.w.m. thematisiert werden – wobei Rainey stets verantwortlich für zwischengeschaltete Kapitel ist, in denen aktuelle Forschungsthemen vorgestellt werden, die auf eine mögliche Realität von Unsichtbarkeit, Levitation, genetischen Zuchtprogrammen etc. hinweisen. Das in der 2024-er Dokumentation als „nie vorher offenbart“ geschilderte Aufwachsen Raineys in einer christlich-fundamentalistischen Umgebung, was Einfluss auf ihren Umgang mit den Behauptungen rund um die UFO-Entführungen ausübt, beschreibt sie in „Sight Unseen“ gleich im Vorwort bzw. in ihrer Autorenbeschreibung.
Während die Filmaufnahmen stets zur Veröffentlichung als Dokumentation geplant waren (zunächst gemeinsam mit Hopkins, dann jedoch als kritische Auseinandersetzung mit dem Arbeitstitel „Something Hidden“; Rainey, 2014), erschien ihr Beitrag „The Priests of High Strangeness: Co-Creation of the ‚Alien Abduction Phenomenon‘“, der auch in der Netflix-Dokumentation kurz angesprochen wird, erst viele Jahre später, 2011, in einem Online-Magazin (Rainey, 2011). Gerade zu dieser Zeit wurden kritische Stimmen bezüglich des unethischen Umgangs von Entführungsforschern mit ihren Klienten laut, denen sich Rainey hier anschloss, speziell der von Emma Woods, die vom Entführungsforscher und Freund Hopkins‘, David Jacobs, „behandelt“ wurde (vgl. Vaeni, 2010). Schockierend war dabei der wiederholte Vorwurf von Hopkins‘ stetiger Suche nach dem nächsten mindestens als Buch publizierbaren Material, wohingegen Menschen mit weniger interessant wirkenden Erfahrungen nach der ersten Sitzung abgewimmelt wurden („Er warf die Leute weg, weil er nach Fällen suchte, die aufregender waren.“ Rainey, 2011, S. 5)
Ab 2011 hatte dann auch der Rezensent über ein Jahr hinweg immer wieder E-Mail-Kontakt mit Rainey, die gern die Genehmigung für die Übersetzung ihres Artikels „The Priests of High Strangeness“ im JUFOF erteilte und sich – ganz die Wissenschaftsjournalistin – auch für seine beruflichen Themen aus der medizinischen Informatik interessierte.
Erst 2016 wurde dann wieder etwas von ihr bekannt, als ein zweiteiliger Artikel auf dem Blog von Jack Brewer erschien, der ein Ausschnitt aus Raineys geplanten Memoiren sein sollte (Rainey 2016, 2016b) und erneut auf ihren hautnahen Kontakt zu der hochproblematischen Arbeit von Budd Hopkins mit seinen Klienten an einem konkreten Beispiel einging.
Was bleibt zur Netflix-Dokumentation zu sagen? Der Erfolg, ihre Filmarbeit heute, nach all den Jahren, schließlich doch noch veröffentlicht zu sehen, blieb Carol Rainey trotz der aktiven Mitwirkung (als Senior Consultant sowie vor der Kamera) versagt – sie verstarb im September 2023 an Lungenfibrose. Gerade dadurch, dass sich die jetzt verfügbare Dokumentation einer klaren Position zum Abschluss verweigert, zeigt sie für am UFO-Thema Interessierte aber exemplarisch ein generelles Problem auf: Die geschilderte Erfahrung und die kritischen Argumente zum Fall Napolitano bleiben, jeweils für sich und scheinbar gleichberechtigt, bestehen. Wer heute den Fall recherchiert, findet genau diese Sachlage vor. Damit gleicht er vielen bekannten UFO- und Entführungsfällen, bei denen eine konkrete Klärung stets aussteht und oft ebenso viele bejahende wie kritische Publikationen gefunden werden können, ohne dass all das zu konkreten Erkenntnissen über mögliche zugrundeliegende Phänomene führt. Ein grundlegender Vorwurf zur UFO- oder Entführungsforschung wird hier repliziert: Außer kurzzeitigem Rummel um konkrete Fälle und Personen führen diese letztlich zu nichts. Und dass dem so ist, liegt an ihren Protagonisten.
Für nicht weiter am Thema interessierte Netflix-Doku-Fans ist das sicher unbefriedigend – für Menschen, die die UFO- und Entführungs-Szene verstehen möchten, ist die Serie aber vielleicht gerade deshalb wertvoll. Wer dann noch mehr zur „Alien-Entführung von Manhattan“ wissen will, dem stehen die angegebenen Quellen offen. Die einzige wirklich gegenüber der Doku abgeneigte Person scheint letztlich Linda Napolitano selbst zu sein – sie hatte Netflix, die Produktionsfirma und weitere Personen aus dem Umfeld vorab verklagt und wollte das Erscheinen verhindern, weil sie Budd Hopkins und sich selbst in negativem Licht dargestellt sah (Roeloffs, 2024). Der Richter entschied anders. Allen Netflix-Abonnierenden kann daher der Rezensent heute empfehlen: Entscheiden Sie selbst!
Danny Ammon ∗ ∗ ∗ ∗ ∗
Netflix, 3 Teile à ca. 40 min., ab 12 Jahren
https://www.netflix.com/de/title/81670964,
2024
Quellen:
Hopkins, Budd: Entführt ins All: Die Ufo-Kidnapper an der Brooklyn Bridge. Berlin: Ullstein, 1997
Hopkins, Budd: The Linda Cortile Abduction Case. MUFON UFO Journal 293 (1992a), September, S. 12–16
Hopkins, Budd: The Linda Cortile Abduction Case: Part II, The Woman on the Bridge. MUFON UFO Journal 296 (1992b), Dezember, S. 5–9
Hopkins, Budd; Rainey, Carol: Sight Unseen: Science, UFO Invisibility and Transgenic Beings. New York: Pocket Books, 2004
Rainey, Carol: The Singer’s Hybrid Daughter, Part I. Excerpt from “The Abductionist’s Wife: A Memoir”. 5. Februar 2016a. http://ufotrail.blogspot.com/2016/02/the-singers-hybrid-daughter-part-i.html
Rainey, Carol: The Singer’s Hybrid Daughter, Part II. Excerpt from “The Abductionist’s Wife: A Memoir”. 22. Februar 2016b. http://ufotrail.blogspot.com/2016/02/the-singers-hybrid-daughter-part-ii.html
Rainey, Carol: Something Hidden (working title). 2014. https://www.carolrainey.com/progress.html, https://www.youtube.com/@Dali27/videos
Rainey, Carol: The Priests of High Strangeness: Co-creation of the “Alien Abduction Phenomenon”. In: Paratopia 1 (2011), Nr. 1, S. 2–12: https://paratopia.wordpress.com/wp-content/uploads/2013/06/paratopia-mag_vol1_1-15-11.pdf#page=2
Übersetzt von Ulrich Magin als „Die Priester der ‚High Strangeness‘: Wie das Entführungsphänomen gemeinsam erzeugt wird, JUFOF 33 (2012), Nr. 201, S. 74–86 (Teil 1): https://files.afu.se/Downloads/Magazines/Germany/JUFOF%20(GEP)/JUFOF%20-%20Issue%20201%20-%202012%2003.pdf#page=12 und Nr. 202, S. 113–122 (Teil 2): https://files.afu.se/Downloads/Magazines/Germany/JUFOF%20(GEP)/JUFOF%20-%20Issue%20202%20-%202012%2004.pdf#page=19
Roeloffs, Mary Whitfill: Woman Who Claims She Was Abducted By Aliens In 1989 Sues Netflix Over Docuseries. 29. Oktober 2024. https://www.forbes.com/sites/maryroeloffs/2024/10/29/woman-who-claims-she-was-abducted-by-aliens-in-1989-sues-netflix-over-docuseries/
Stefula, Joseph J.; Butler, Richard D.; Hansen, George P.: A Critique of Budd Hopkins‘ Case of the UFO Abduction of Linda Napolitano. 1993. http://www.tricksterbook.com/ArticlesOnline/LindaCortileCase.htm
Vaeni, Jeremy: Aliens vs. Predator: The Incredible Visitations at Emma Woods. In: UFO Magazine 124 (2010), Nr. 154, S. 34–45. https://cropcirclefilms.com/wp-content/uploads/2014/10/UFO-Magazone-online-102010.pdf#page=36
Quelle: JUFOF Nr. 276, 6/2024: 154 ff