Harendarski, Ulf: Widerstreit ist zwecklos (2003)

Ulf Harendarski:
Widerstreit ist zwecklos

Wenn ich etwas ändern würde an meinem nun über 13 Jahre alten Buch „Von Ufos entführt“, dann das, dass ich viel schärfer den Unterschied herausarbeiten würde zwischen dem, was ich für den Kern des Entführungserlebnisses halte (veränderte Bewusstseinszustände) und dem, was ich für den Kern der Entführungserzählungen halte, nämlich dem Druck, den die Erklärung „UFO“ auf die Deutung, Formulierung und Anordnung des Erlebnismaterials entweder durch die Zeugenbefragung oder mittels Hypnosesituation ausübt.

Ulf Harendarski würde das nicht gelten lassen: In seinem dichten, komplexen Buch will er Entführungen erst einmal nur als sprachliche Tatsachen betrachten und schließt andere Sichtweisen aus: „Die Konstruktion von Entführungserzählungen als gesellschaftlicher Gegenstand unter Gegenständen beruht hier eindeutig auf einem Sprachgebrauch, der derzeitiger Kenntnis der Sache nicht angemessen ist. Als soziokultureller Gegenstand installiert er sich aber durch das Reden über ihn, den sekundären Diskurs, nicht das wirkliche oder primäre Ereignis und normalerweise auch nicht durch die primären Entführungserzählungen. Er ist ein mediales Ereignis.“ (S. 95)

Wer Ulf Harendarskis Vorträge aus Cröffelbach noch im Ohr hat, der weiß, wie spannend er erzählen kann. Diese gewichtige Arbeit (rund 340 Seiten, über 320 Fußnoten, mehrere Anhänge) ist allerdings ein wissenschaftlicher Text, der sich an wissenschaftliche Kollegen wendet: keine leichte Lektüre. Wer kein Semiotik-Insider ist, wer seinen Eco und Peirce nicht kennt (ich zum Beispiel), der tut sich schwer, wird jedoch immer wieder mit Einsichten belohnt, die die Arbeit zu lesen auch für Laien rechtfertigt.

Am Beispiel mehrerer bekannter Verfechter der Realität von Ufos und Entführungen durch Außerirdische (Johannes Fiebag, Höchsmann, von Ludwiger und Mack) analysiert Harendarski das Problem der Erzählung „Entführt von Außerirdischen“. Da alles, was uns vorliegt, Erzählungen sind, ist ein semiotischer Ansatz sinnvoll; und Harendarski zeigt anhand vieler Beispiele, wie unscharf feststehende sprachwissenschaftliche Begriffe u.a. verwendet werden: da wird vom „Phänomen“ gesprochen, wo dessen Definition nicht erfüllt ist (auch ich z.B. habe dieses Wort immer in seiner populären, nie in seiner wissenschaftlichen Definition benutzt), von „Bericht“ statt „Erzählung“. Durch die falsche Verwendung dieser Termini werden unter anderem falsche Gewissheiten hergestellt – unter anderem die, dass wir es bei unter Hypnose generierten Erzählungen mit Tatsachenberichten zu tun hätten.

Das Werk ist zu vielfältig, um hier in seiner Gesamtheit vorgestellt zu werden (und viele der semiotischen Diskurse überstiegen auch mein Fassungsvermögen), aber einige Punkte möchte ich als besonders interessant herausgreifen: Da geht es einmal darum, wie Realität behauptet und sprachlich hergestellt wird (z.B. durch Verwendung des Indikativs statt des Konjunktivs, durch den Präsens, durch direkte Rede u.ä.), obwohl für die so präsentierte Realität gar keine Belege vorliegen. Harendarski zitiert Johannes Fiebag, der Erzählung und Bericht durcheinanderwirbelt und Ähnlichkeiten zwischen den Erzählungen behauptet, wo de facto keine sind und führt dann aus:

„Die Rhetorik klingt überzeugend, verschleiert bleibt einmal mehr, dass es sich gar nicht um Beobachtungen handelt, sondern um Erzählungen, verschleiert bleibt auch, dass die Erzählungen ganz andere Modalwelten aufspannen als die Welt, in der von mir jederzeit beobachtbare [Dinge] leben. Wie gesagt, die reine, unbestreitbare Tatsache, dass verschiedene Menschen derlei erzählen, soll induktiv wirksam genommen werden, um zum Urteil zu gelangen: ‚Das ist wirklich passiert.‘ Im Zitat J. Fiebags … kommt dies anschaulich zum Ausdruck, wenn er fordert, es müssten ganz neue Methoden angewandt werden, um dieser fremden ‚Realität‘ gerecht zu werden. Dass die Modalwelt der Erzählungen nicht auf Modalwelten bezogen wird, die ähnlich funktionieren, dass nicht der induktive Schluss bis zum Urteil gezogen wird, fällt auf: ‚Das ist eine fiktionale Erzählung wie andere auch.‘ Wie aber kommt es, dass diese Erzählungen als ‚über Realität‘ interpretiert werden, wo doch ihr Konstrukt so sehr an Fiktives erinnert, dass dies eine viel plausiblere Erklärung wäre?“ (S. 195)

Der zweite Aspekt der Arbeit, der mich fasziniert hat, weil er Dinge deutlich macht, die ich bisher so nicht verstanden hatte, sind die Abschnitte ab S. 201. Hier beantwortet Harendarski die eben gestellte Frage und zeigt, wie sich der Begriff des Unbewussten von Freud über C.G. Jung bis zu den heutigen Verfechtern der Entführungsrealität gewandelt hat: Was bei Freud eine Metapher war für den Teil unserer Psyche, in den verdrängte Inhalte kommen, gilt heute den Ufologen als eine Art selbständiges Ich mit eigenen Erinnerungen, das sogar von sich aus und autark zu handeln vermag. (Sehr schön dargestellt anhand eines Beispiels auf S. 218.) Das ist das Unbewusste gerade nicht, denn es hat nichts mit Erinnerungen zu tun – auf dieser simplen Verwechslung einer Metapher mit einer Realität basiert das Konzept der Hypnoserückführung, das seit Hopkins einer der tragenden Pfeiler des Entführungsmythos ist.

Der letzte Abschnitt des Buchs (S. 285ff) ist einer eingehenden Analyse des Gesprächsverlaufs zwischen Therapeuten (T) und Hypnotisierten/Analysanden (A) gewidmet. Harendarski zeigt sehr schön und immer am konkreten Beispiel auf, wie mühsam sich der Hypnotiseur und der „Entführte“ synchronisieren und aufeinander einspielen, damit die Entführungserzählung überhaupt entstehen kann: „A als Kundin von T weiß nicht nur, was sie will, sie weiß auch schon vor dem Erstgespräch, was sie von T erwarten kann. Es geht hier primär darum, die Metaphern und ihre Übergänge untereinander so zu konstruieren, dass A in suggestiblem Zustand geraten kann, was sie in gewissem Sinne aber längst ist.“ (S. 285)

Gemeinsam arbeiten dann Hypnotiseur und „Entführter“ an der Erzählung: „Beim Hören dieser quälend langsamen Sprache wird aber einsichtig, wie mühsam sich solche [geheimnisvollen] Botschaften zumeist herstellen. Beim Hören wird deutlich, was in den bisherigen schriftlichen Wiedergaben entfällt: dass es ein eher langwieriger Prozess ist, bis diese ‚geheimnisvollen‘ Botschaften fertig konstruiert sind.“ (S. 289) Und: „[Der Therapeut] ist als Gesprächspartner notwendig. Der ohnehin quälende Redefluss kommt oft völlig ins Stocken und es bedarf an diesen Positionen immer des Eingriffs durch den Therapeuten, damit der spärliche Fluss weitergeht. Insofern ist diese Form des therapeutischen Gesprächs von äußerster Abhängigkeit gekennzeichnet.“ (S. 291)

Diese Punkte sind natürlich nicht alles, was von Harendarski besprochen wird, es sind die, die ich am interessantesten fand. Große Teile der Arbeit drehen sich um semiotische Begriffsbestimmungen, die erst erarbeitet werden, bevor sie auf den Diskurs der Entführungen angewendet werden. Harendarskis Buch ist kein UFO-Buch, aber ein wichtiger Beitrag – ein Blick von außen auf einen viel zu oft nur intern geführten Diskurs -, der wichtig ist, der oftmals erhellt, und der ganz andere Schlaglichter wirft als die, auf die sich diese Diskussion längst festgefressen hat. Und noch eines ging mir bei der Lektüre auf: Der Streit um die Entführungen selbst ist längst schon ein historisches Thema, das aktuell gar nicht mehr verhandelt wird. So prunkvoll und bedeutsam sie auf der ufologischen Szene erschienen sind (zusammen mit MJ12 und Roswell), so plötzlich sind sie auch wieder verschwunden, sind Gesichte, kein Thema mehr für Medien, für UFO-Forscher, für die Gesellschaft – und wo kein UFO-Forscher sich dadurch profiliert, dass er Menschen Entführungserlebnisse suggeriert, da stehen sie auch nicht mehr auf und melden solche bei den Forschern.
Ulrich Magin

342 S., br., ill., ISBN 3-8233-6011-6, € 68,00

Gunter Narr Verlag
www.narr.de
Tübingen, 2003

Quelle: JUFOF 152: 57 ff